Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Dipl.-Psych. Sabine Lellek
Mit dem Thema sexueller Missbrauch befasse ich mich seit 1989 durch meine Tätigkeit im Jugendhilfezentrum Johannesstift Wiesbaden (www.johannesstift.eu). Durch Therapie mit betroffenen Jugendlichen und Kindern und die Supervision und Fortbildung der Mitarbeiter/innen habe ich dort vielfältige Erfahrungen mit diesem Thema gesammelt. Im Rahmen meiner Arbeit in der Institutsambulanz Heppenheim der Vitos Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik arbeite ich seit 1998 im Arbeitskreis gegen sexuellen Missbrauch im Kreis Bergstraße mit. Der AK versucht, durch Netzwerkarbeit, Fortbildungen, Öffentlichkeitsarbeit und Supervision Menschen zu unterstützen, die professionell mit diesem schwierigen Thema konfrontiert sind, und die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren.
Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
In diesem Text möchte ich Menschen, die mit dem Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in Berührung kommen, einen Überblick geben. Der Komplexität dieses Phänomens kann ich damit jedoch nur ansatzweise gerecht werden. Dennoch gibt es Bedingungen und Strukturen, die wiederkehrend aufzufinden sind und neben vielen individuellen Ausprägungen und Konstellationen dieses Phänomens als charakteristisch anzusehen sind. Sie zu beschreiben, ist mir hier ein Anliegen.
Zunächst definiere ich, was sexueller Missbrauch ist, in welcher Form er auftritt und warum die Aufdeckung durch Außenstehende und die Beendigung des Missbrauchs immer wieder ein mühsames Unterfangen sein kann. Ich beleuchte Ursachen und Folgen und möchte besonders die äußerst schwierige Dynamik der Beziehung der Täter zu ihren Opfern im vertrauten Kontext der Familie in den Blick nehmen. Am Ende gebe ich in Form von Fragen Anregungen, was potenzielle Helfer beachten sollten, wenn sie Betroffene unterstützen und schützen wollen.
Auch wenn die Begriffe „sexueller Missbrauch“, „Opfer“ und „Täter“ Anlass zur Kritik geben können, verwende ich sie in diesem Text, weil sie sich so im Sprachgebrauch etabliert haben und klar umreißen, was gemeint ist. Ich verwende meistens die männliche Form, da häufig Männer als Täter in Erscheinung treten. Jungen und männliche Jugendliche werden jedoch ebenfalls in großer Zahl Opfer von sexueller Gewalt durch Erwachsene beiderlei Geschlechts, aber sie teilen dies nur noch viel seltener mit.
Sexueller Missbrauch – ein allgegenwärtiges Phänomen
Das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen lässt sich in seiner Widersprüchlichkeit und Unfassbarkeit durch eine Metapher gut beschreiben. Es ist ein lautes und ein leises Thema zugleich: Es ist leise, weil es meistens im Verborgenen stattfindet, weil es eines der wichtigsten gesellschaftlichen Tabus verletzt, weil es bei allen Betroffenen mit so viel Scham besetzt ist und weil man immer wieder nicht wahrhaben will, dass es passiert, quer durch alle Schichten der Bevölkerung, quer durch alle Kulturen und Zeiten. Es ist auch ein leises Thema, weil darüber zu sprechen sehr schwer ist und weil die Betroffenen keine Lobby haben und manchmal vergessen werden. Aber laut, manchmal sehr laut, ist dieses Thema auch, weil Entrüstung und Aufregung bei der Aufdeckung sehr groß sein können, weil die Verwirrung von Gedanken und Gefühlen betroffener Menschen, auch die der Helfer, wie Lärm den Kopf vernebeln. Laut ist es auch, weil manchmal die öffentliche Berichterstattung bei spektakulären Sexualverbrechen mit ihren Schlagzeilen die Schamgrenzen aller Beteiligten missachtet.
Das Thema sexueller Missbrauch erfordert daher auch ein leises und ein lautes Vorgehen zugleich. Die Gegensätzlichkeit dieser beiden Adjektive macht deutlich, wie widersprüchlich so vieles bei diesem Thema ist, was eine Hilfe oder eine Klärung schwer macht. Einerseits ist ein sensibler Umgang mit den Opfern gefordert, der frei ist von Voyeurismus und Sensationslust; andererseits ist ein unerschrockenes, aber wohlüberlegtes Handeln zum Schutze der Opfer nötig. Sexueller Missbrauch an Kindern ist ein vielschichtiges psychologisches Geschehen und gleichzeitig, ganz unkompliziert, ein schlimmes Verbrechen, für das Gefängnisstrafe droht. Sexueller Missbrauch erfordert ein sehr individuelles Vorgehen, bei dem der Schutz des Kindes immer an erster Stelle stehen sollte.
Zeitgeschichtliche Aspekte
Im neunzehnten Jahrhundert hat Sigmund Freud mit der Psychoanalyse zunächst entscheidend zur Enttabuisierung der Sexualität beigetragen und ihre Bedeutung für die normale Persönlichkeitsentwicklung hervorgehoben. Er stieß besonders bei der Behandlung hysterischer Patientinnen immer wieder auf Schilderungen sexueller Übergriffe durch den Vater und entwickelte daraus die Verführungstheorie. Er nahm an, dass die Hysterie Folge eines in der Kindheit erlittenen sexuellen Traumas sei, z.B. ein Trauma durch die sexuelle Verführung durch den Vater. 1897 widerrief er diese Theorie und verfolgte stattdessen die Theoriebildung um den Ödipuskomplex, in der die berichteten sexuellen Erlebnisse seiner Patientinnen als deren Phantasien und unbewussten Wünsche gedeutet wurden. Vermutlich konnte er nicht glauben, was seine Patientinnen ihm da berichteten. Sándor Ferenczi, ein ungarischer Psychoanalytiker, hielt die sexuelle Verführung der Kinder durch Erwachsene, so wie sie ursprünglich von Freud in seiner Theorie formuliert worden war, für wahr und machte dabei gleichzeitig einen Versuch der Erklärung für diese traurigen Tatsachen. Er glaubte, dass Kinder Erwachsenen mit der „Sprache der Zärtlichkeit“ begegnen, Erwachsene aber mit der „Sprache der Leidenschaft“ antworten und so Kinder und Jugendliche missbrauchten. Kinder suchen Geborgenheit und Zärtlichkeit und wollen keine Sexualität mit Erwachsenen. Innerhalb der heutigen psychotherapeutischen Schulen ist dieser thematische Streit überwunden. Sexueller Missbrauch wird schulenübergreifend als ein weit verbreitetes Phänomen in unserer Gesellschaft angenommen, das schwere psychische Schäden bei den Opfern hinterlassen kann.
Was ist sexueller Missbrauch?
Sexueller Missbrauch sind alle Verhaltensweisen, die Erwachsene mit dem Ziel, sich sexuell zu stimulieren, mit Kindern vollziehen. Diese Definition ist zunächst sehr allgemein, sie kennzeichnet aber das wesentliche Merkmal des sexuellen Missbrauchs sehr genau. Erwachsene suchen absichtsvoll durch verschiedene Verhaltensweisen sexuelle Befriedigung mit Hilfe eines Kindes. Das kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen und bedeutet nicht, dass immer konkrete und direkte sexuelle Handlungen stattfinden. So kann schon ein absichtliches Stören im Bad oder Zimmer oder ein kurzes, flüchtiges „unabsichtliches“ Berühren im täglichen Umgang eine sexuell gefärbte Intention beinhalten. Das Kind spürt auch meistens, dass eine andere Atmosphäre ins Spiel kommt, kann diese aber nicht immer gleich benennen. Anzügliche Bemerkungen, lüsterne Blicke oder Fotografieren können ebenfalls einen missbräuchlichen Charakter haben, wenn der Erwachsene sich damit sexuell erregt. Konkrete sexuelle Handlungen wie z.B. orales Befriedigen, Geschlechts-Analverkehr stehen am anderen Ende des Spektrums der Beschreibung.
Die allgemeine Definition kann dazu führen, dass Eltern sich ängstlich fragen, ob sexueller Missbrauch schon dort beginnt, wo sie ein sexuelles Gefühl zu ihrem Kind verspüren. Dies ist aber nach der obigen Definition zu trennen. Entsteht zum Kind ein sexuell gefärbtes Gefühl, dann ist es für einen verantwortlichen Erwachsenen klar, dass er sich mit dem Verhalten, das die Erregung ausgelöst hat, aus dem Kontakt zurückzieht, z. B. nicht mehr ins Bad geht, sich nicht mehr zum Kind ins Bett legt oder nicht mehr mit ihm badet, ohne dem Kind oder dem Jugendlichen dafür die Verantwortung zu geben. Sind sexuelle Gefühle zum eigenen Kind oder überhaupt zu Kindern nicht vorübergehender Natur, so begibt sich ein reifer, verantwortungsvoller Erwachsener in eine Beratung, um zu klären, was in ihm vorgeht. Ein Täter sucht absichtsvoll die Situationen, die ihn erregen, auf, um das Kind für seine sexuelle Befriedigung zu „gebrauchen“. Dies ist der entscheidende Unterschied, der zum sexuellen Missbrauch führt.
Sexueller Missbrauch an Kindern ist körperliche und psychische Gewaltanwendung mittels sexueller Handlungen am Körper und an der Seele eines Kindes. Es ist ein Vertrauens- und Machtmissbrauch eines Erwachsenen gegenüber einem Kind. Der Erwachsene gestaltet die Beziehung zum Kind absichtsvoll so, dass er seine sexuellen Wünsche befriedigen kann. Die Verantwortung dafür liegt immer bei den Erwachsenen. In jedem Fall, auch wenn Täter häufig ihre Taten bagatellisieren und sogar auf die Verführung durch die Opfer oder deren Einverständnis schieben, bleibt hier festzustellen, dass Kinder Sex mit Erwachsenen nicht wollen. Sex mit Kindern ist nicht etwa eine mögliche Sexualpräferenz, wie einige pädophile Täter gern zu ihrer Rechtfertigung behaupten, sondern Missbrauch von Macht und Vertrauen und eine schwere Straftat. Das Inzesttabu und der Schutz von Kindern und Jugendlichen sind nicht nur biologisch wichtig. Es ist auch psychologisch notwendig, da Kinder für eine gelungene eigene Persönlichkeitsentwicklung die Abgrenzung von den erwachsenen Vertrauenspersonen in der Familie, aber auch außerhalb der Familien brauchen. Die Entgrenzung, die durch sexuelle Handlungen mit Erwachsenen erfolgt, stört die Entfaltung der Persönlichkeit bei Kindern nachhaltig.
Die überwiegende Zahl der Missbrauchsfälle finden in der Familie durch männliche Bezugspersonen wie Väter, Stiefväter, Onkel, Großväter statt. Eine weitere große Zahl der Fälle ereignet sich in Institutionen wie Schulen, Sportvereinen, Kirchengemeinden, in denen Kinder durch dortige Mitarbeiter/Vertrauenspersonen (Lehrer, Pfarrer, Trainer, Betreuer) missbraucht werden. Die überwiegende Zahl der Täter sind Männer (daher benutze ich in diesem Text nur die männliche Schreibweise), die meisten Opfer sind weiblichen Geschlechts. Sexueller Missbrauch findet aber auch durch Frauen an Kindern und Jugendlichen beiderlei Geschlechts statt. Da es Jungen aber noch schwerer fällt, sexuellen Missbrauch mitzuteilen, gibt es darüber weniger verlässliche Zahlen. Das Phänomen sexueller Missbrauch ist in allen Schichten der Gesellschaft aufzufinden. Das Alter der Opfer reicht von Säuglingen bis zur Adoleszenz.
Ab welchem Alter man bei Tätern von Missbrauch spricht, hängt vom Kontext ab. Ein schon erwachsener Jugendlicher, der mit einer 13-Jährigen sexuelle Kontakte hat, begeht nicht automatisch durch den Altersunterschied einen sexuellen Missbrauch. Hier ist die Einwilligungsfähigkeit und Reife der Jugendlichen ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung, ob es sich um Missbrauch handelt. Jugendliche beiderlei Geschlechts verlieben sich auch in Erwachsene und stimmen einem sexuellen Kontakt aus diesem Gefühl heraus zu. Dennoch sind sie von der Sexualität eines Erwachsenen oft überfordert und werden von Gefühlen, die nicht ihrer sexuellen Reife entsprechen, überflutet mit negativen Folgen für ihre weitere Entwicklung. Auch dies kann eine Form von Missbrauch sein. Eindrücklich wird dies von Bernhard Schlink in dem Roman „Der Vorleser“ beschrieben. Die meisten Fälle von sexuellem Missbrauch ereignen sich im Altersbereich von 10-16 Jahren durch einen deutlich älteren Erwachsenen.
Die Schwere des Missbrauchs und seine Folgen für die Entwicklung des Kindes hängen in einem besonderen Maße davon ab, wie eng und vertrauensvoll die Beziehung des Kindes zum Täter ist. Je enger und vertrauensvoller das Verhältnis zwischen Kind und Täter ist und je länger der Missbrauch andauert, desto schwerer sind die Folgen für das Kind. Die Dynamik und die Folgen eines Missbrauchs innerhalb der Familie (Inzest) sind andere als die durch eine dem Kind nicht so nahestehende Person.
Ursachen und Bedingungen, unter denen sexueller Missbrauch stattfindet
Die Ursachen für sexuellen Missbrauch liegen bei den Tätern in deren eigenen Deformationen und Störungen ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Nicht jede Person, die einen sexuellen Missbrauch an Kindern begeht, ist pädophil veranlagt. Dies zu unterscheiden ist wichtig für die Therapie der Täter. Eine reine Störung der Sexualpräferenz ist eher selten. Welche Rolle biologische und soziale Faktoren bei der Entstehung dieser Deformationen spielen, ist noch nicht ausreichend erforscht. In vielen Fällen sind Menschen, die Kinder und Jugendliche sexuell missbrauchen, selbst in ihrer Kindheit Opfer sexueller Übergriffe gewesen und konnten diese Erfahrungen nicht verarbeiten. Aus ihrem eigenen Ohnmachtserleben, das nicht verarbeitet wurde, entsteht dann die Neigung, anderen das Gleiche anzutun. Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung können dazu führen, dass sie die Beziehung zu Kindern und Jugendlichen missbräuchlich gestalten. Besonders die Fähigkeit zur Subjekt-Objekt-Differenzierung, die Selbstwertregulation, die Empathiefähigkeit sowie ein Mangel an Verantwortungs- und Schuldgefühlen, die unser Verhalten steuern, fehlen bei den Tätern meistens oder sind nicht ausreichend entwickelt.
Die jüngsten Ereignisse in Schulen und Internaten legen auch die Vermutung nahe, dass bestimmte gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen ein grenzverletzendes Verhalten gegenüber Kindern fördern und begünstigen können. Die Ausnutzung von Macht und Autorität, aber auch von Vertrauen ist in geschlossenen Systemen mit starken Hierarchien und festen Traditionen vermutlich einfacher. Nach den jüngsten Enthüllungen wird es eine gesellschaftliche Aufgabe sein, herauszufinden, wie in Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, Bedingungen geschaffen werden können, die einerseits eine vertrauensvolle Atmosphäre herstellen, aber sexuelle Übergriffe verhindern.
Im Lebenskontext der Opfer begünstigt eine dysfunktional verlaufende Entwicklung innerhalb des familiären Systems den sexuellen Missbrauch. Kinder und Jugendliche, denen kein altersentsprechender Schutz zuteilwird und denen vertrauensvolle und geborgenheitsspendende Beziehungen fehlen, sind besonders gefährdet, weil sie anfälliger sind für die zunächst liebevollen Annäherungen des Täters und weil sie niemanden haben, dem sie sich anvertrauen können. Behinderte Kinder, die sich aufgrund ihrer Defizite anderen nicht gut mitteilen können, sind ebenfalls bedroht, Opfer von Übergriffen zu werden.
Im Gegensatz zu einer gewalttätigen Kindesmisshandlung, die oft spontan im Affekt auftritt, sind Missbrauchshandlungen geplant und finden im Verborgenen statt. Meistens handelt es sich nicht um einmalige Übergriffe, sondern um monate- oder jahrelang stattfindende missbräuchliche Beziehungen zu Kindern, die in Abhängigkeit vom Täter leben. Die Aufdeckung bzw. Beschreibung des Missbrauchs unterliegt einem weitaus größeren Tabu, als es bei Misshandlung der Fall ist. Berichte von Betroffenen zeigen eindrücklich, wie lange sie brauchten, um jemanden zu finden, der ihnen wirklich glaubte und bereit war, ihnen zu helfen und für Schutz zu sorgen. Missbrauchstäter machen sich dieses Tabu zunutze und bauen auf ihr Vertrauens- und Machtverhältnis, das sie oft zu dem Opfer, aber auch zum Umfeld des Kindes haben, um die Geheimhaltung des Missbrauchs zu erreichen.
Bei der Betrachtung des inzestuösen sexuellen Missbrauchs ist es wichtig, die Beziehung zwischen Kind und Täter auch in ihrer Abhängigkeitsdynamik und Ambivalenz für das Kind zu berücksichtigen. Die Opfer wollen die Beziehung, in der sie mit den Tätern leben, z. B. zum Vater oder Stiefvater, und die ihnen auch Stabilität und Geborgenheit gibt, meistens nicht gefährden. Der Täter nutzt diese Abhängigkeit und Liebe des ihm vertrauenden Kindes für seine sexuelle Befriedigung. Kinder können das zerstörerische Handeln kaum von seiner Zuneigung trennen und geraten dann in große seelische Not. Daher äußern sie sich oft nicht und erleiden den Missbrauch manchmal über sehr lange Zeit. Ebenfalls schwierig gestaltet sich die Aufdeckung, wenn der Täter eine öffentliche Person ist, zu der ein Vertrauensverhältnis besteht, wie z. B. Pfarrer, Lehrer, Trainer, Chef. Hier wird das Ansehen des Täters oft höher eingeschätzt und als schützenwerter betrachtet als die Glaubwürdigkeit und die Unversehrtheit der Kinder. Da es sich bei sexuellem Missbrauch an Minderjährigen um eine Straftat handelt, die eine Anzeige und Verurteilung nach sich ziehen kann, scheuen viele Menschen davor zurück, Kinder, die sich ihnen anvertrauen, zu unterstützen.
Folgen von sexuellem Missbrauch
Sexuelle Gewalt verursacht sowohl in der körperlichen als auch in der psychischen Entwicklung eines Kindes/Jugendlichen Störungen. Jeder Bereich (Gefühle, Denken, Verhalten, Körper) kann davon betroffen sein. Die erkennbaren Symptome sind der Versuch des Kindes, das Geschehen zu verarbeiten, sich davor zu schützen und den Missbrauch auszuhalten.
Sexueller Missbrauch ist ein Phänomen, das in unzähligen Varianten auftritt und dessen Folgen sehr unterschiedlich sind. Die Symptome, die bei Opfern sexueller Übergriffe auftreten, sind sehr vielfältig und unspezifisch. Das Erkennen bzw. Diagnostizieren ist aus diesem Grund und wegen der gesellschaftlichen Tabus, die den Austausch über dieses Thema erschweren, ein oft langwieriger Vorgang, bei dem viele Hindernisse überwunden werden müssen. Sexualität ist ein sehr privates Thema, über das man nicht öffentlich redet. Auch durch Missbrauch wird es nicht zu einem öffentlichen Thema. Scham- und Schuldgefühle der Opfer und oft auch ihre Abhängigkeit von den Tätern können dazu führen, dass der sexuelle Missbrauch von den Betroffenen nicht mitgeteilt und von der Umwelt nicht erkannt wird. Auch viele Jahre später können die Scham – und Schuldgefühle sich bei den Betroffenen noch zerstörerisch auswirken und verhindern, dass sie sich Hilfe suchen.
Je enger die Beziehung zum Täter, desto schwerwiegender sind die Folgen für das Opfer, und desto schwieriger gestaltet sich das Entkommen des Kindes aus der missbräuchlichen Beziehung. Zur Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes zum autonomen Erwachsenen gehören Phasen der Abgrenzung und Verselbstständigung, die durch sexuellen Missbrauch durch eine Identifikationsfigur, wie z.B. den Vater oder einen Lehrer, erschwert werden. Einige Autoren sprechen zu Recht von „Seelenmord“ (Wirtz 1989). Alle Entwicklungsphasen, die zur Reifung der Persönlichkeit durchlaufen werden, wie sie beispielsweise Erik Erikson (1977) postuliert, werden dadurch nachhaltig gestört.
Mögliche Folgen sind zum Beispiel: Körperliche Verletzungen und Krankheiten insbesondere im Genitalbereich; in den meisten Fällen gibt es allerdings kaum körperliche Spuren. Oft findet der Missbrauch als schleichender Prozess statt, in dem alltägliche Zärtlichkeiten der Anfang sind. Nicht immer kommt es dabei zum Geschlechtsverkehr, durch den sich ein sexueller Missbrauch vielleicht einfacher körperlich nachweisen ließe. Weitere Folgen sind: Beeinträchtigung der Gefühle und der Wahrnehmung, psychosomatische Beschwerden, sexualisiertes Verhalten, autoaggressives Verhalten, Ängste, Depressionen, schwere Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, Suizidversuche, schwere Scham- und Schuldgefühle usw. Die traumatischen Folgen sind sehr individuell und unspezifisch und daher nur schwer konkret als Folge eines sexuellen Missbrauchs zu erkennen. Keinesfalls ist jedes sexualisierte Verhalten eines Kindes als Hinweis auf einen Missbrauch zu deuten. Kinder interessieren sich entwicklungsphasenspezifisch für körperliche Vorgänge und Sexualität und drücken dies auch in Form von nachahmendem Verhalten oder neugierigem Verhalten aus.
Sexueller Missbrauch in der Familie
Findet der sexuelle Missbrauch innerhalb der Familie statt, so sind besondere Bedingungen durch das schon vorhandene Vertrauensverhältnis gegeben. Die Beziehung zwischen dem Täter und dem Kind besteht meistens nicht nur aus dem sexuellen Übergriff, indem der Täter seine Bedürfnisse befriedigt. Darüber hinaus kann der Täter für das Kind auch wichtig sein, weil er vielleicht der Einzige ist, der ihm Zuwendung und Aufmerksamkeit gibt oder auch Schutz und Sicherheit in einem anderen Zusammenhang gewährt. Die sexuelle Handlung selbst kann auch vom Opfer in einigen Bereichen als lustvoll, obgleich nicht gewollt, erlebt werden. Dies hat dann zur Folge, dass Kinder sich noch schuldiger fühlen, als dies ohnehin der Fall ist, und dass so die verursachten Störungen noch gravierender sind. Gewalt wird in den meisten Missbrauchsfällen zu Beginn vom Täter nicht eingesetzt. Eher nutzt der Täter das kindliche Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Geborgenheit und seine Machtstellung für seine missbräuchlichen sexuellen Handlungen. Um das Kind zur Geheimhaltung zu bringen, setzen Täter allerlei Tricks ein. Sie betonen das Besondere der missbräuchlichen Handlung, die dem Kind eine besondere Position verleiht (Papas Liebling o.ä.), sie machen Versprechungen, betonen das Geheimnis als Besonderheit. Manchmal drohen sie auch mit Beziehungsabbruch oder Strafen, nutzen ihre Machtposition dafür aus.
In einen vertrauensvollen und abhängigen Kontakt eingebunden, kann der Täter sich bei seinen sexuellen Handlungen und deren Geheimhaltung durch das Kind sicherer sein. Hat das Kind keine anderen vertrauensvollen und liebevollen Beziehungen, so kann der Täter sein Opfer leicht beeinflussen, um seine Ziele zu verfolgen. Kinder übernehmen schnell Verantwortung und Schuld, wenn vertraute Erwachsene ihnen dies suggerieren. Daher glauben viele Opfer, sie hätten den Missbrauch verursacht und sogar gewollt, müssen ihn daher auch ertragen. Sie glauben manchmal, auch ihnen drohe eine Strafe. Aus diesem Grund ist es so überaus wichtig, Kindern, die sich anvertrauen, Unterstützung zu geben, ihnen zu glauben und sie aufzuklären über die Verantwortung des Erwachsenen. Für einen gelungenen Verlauf der Aufdeckung und Beendigung des sexuellen Missbrauchs sowie einer späteren psychischen Aufarbeitung ist es jedoch bei Kindern, die eng an die Täter gebunden sind, von entscheidender Bedeutung, ob sie selbst spüren und erkennen, dass andere Beziehungen, die nicht durch Missbrauch und Grenzverletzung geprägt sind, ihnen ein besseres Befinden ermöglichen. Dies ist umso schwerer, je zentraler die Beziehung zum Täter für das Kind ist. So hat der inzestuöse Missbrauch in Familien meistens die schlimmsten Folgen für die Entwicklung des Kindes. Wenn das Kind den Schritt der Ablösung von dem Täter nicht bewältigt, bleibt es an grenzverletzende Beziehungen gebunden und sucht sie später aktiv immer wieder, weil sie ihm als einzig Mögliche, was es haben kann, erscheinen.
Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs
Die Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs, seine Folgen für das Opfer und der daran anschließende Prozess einer Aufarbeitung bzw. Therapie sind abhängig von den oben genannten Bedingungen, unter denen der Missbrauch stattgefunden hat. Auf Seiten der Kinder und Jugendlichen sind es die Faktoren: Reaktion des Umfeldes, andere vertrauensvolle Bindungen, Vulnerabilität, Resilienz, protektive Faktoren, Begabung, sozial-emotionaler Entwicklungsstand, Persönlichkeitsentwicklung, Alter des Opfers, Art der Beziehung zum Täter.
Warum es immer wieder schwer sein kann, betroffenen Kindern und Jugendlichen zu helfen, wurde in den vorangegangenen Abschnitten schon von vielen Seiten beleuchtet. Da es meistens keine direkten Zeugen gibt und die Symptome unspezifisch sind, bleibt nur die Aussage des Kindes als Hinweis übrig. Fälle, in denen Kinder einen solchen Vorwurf erfinden, gibt es selten. Eher deuten Erwachsene ein kindliches Verhalten manchmal falsch oder suggerieren dem Kind durch manipulative Fragen, dass es missbraucht werde. Solche Szenarien findet man am ehesten in Partnerschaftskonflikten, wenn zerstrittene Paare durch solche Vorwürfe dem anderen schaden wollen. Manchmal geschieht dies ohne Vorsatz aufgrund des zufälligen Auftauchens von mehrdeutigem Verhalten beim Kind und wird dann als willkommener Anlass genommen, dem Partner das Sorgerecht streitig zu machen, ihm das Kind zu entfremden oder sich für eigene erlittene Kränkungen am Partner zu rächen.
Kindliches Verhalten wird manchmal auch falsch gedeutet, wenn Eltern selbst Opfer sexueller Übergriffe in der Kindheit waren und daher für dieses Thema besonders sensibilisiert sind. Umgekehrt passiert es auch, dass ehemalige Opfer, die nie eine Aufarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen machen konnten, selbst zu Tätern werden oder aber einen sexuellen Missbrauch ihrer Kinder nicht wahrnehmen können, weil sie den eigenen Missbrauch in ihrer Kindheit verdrängt haben. Alle diese Möglichkeiten sind in Erwägung zu ziehen, sollten aber nicht dazu führen, konkrete Äußerungen zu sexuellen Übergriffen von Kindern nicht ernst zu nehmen. Vielmehr sollten sie zu einem gründlichen und bedachten Vorgehen bei der Unterstützung betroffener Kinder und Jugendlichen beitragen.
Die Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs verursacht im Umfeld von Opfer und Täter eine schwere Erschütterung und hat, je enger die Beziehungen sind, weitreichende Folgen für alle Beteiligten. Betroffene Kinder und Jugendliche, aber auch mögliche Mitwisser oder Zeugen scheuen sich, diese Erschütterung auszulösen. So wollen manche Mütter ihren Kindern keinen Glauben schenken, weil damit auch ihre Welt (Partnerschaft, Familie) zu zerbrechen droht. Institutionen scheuen sich, Mitarbeiter diesem Verdacht auszusetzen, weil sie Angst um ihren Ruf haben. Hierarchische Strukturen geben Einzelnen die Macht, die Aufdeckung zu verhindern und potenzielle Helfer als „Nestbeschmutzer oder Verräter“ zu diffamieren.
Ziel der Aufdeckung ist immer der Schutz des Kindes und die Beendigung der sexuellen Übergriffe durch den Erwachsenen. Eine mögliche Anzeige und Strafverfolgung ist diesem Ziel zunächst unterzuordnen. Darauf wird im Folgenden noch gesondert eingegangen. Grundsätzlich gilt, dass es schwerer ist, einen Missbrauch zu erkennen und nachzuweisen, je jünger die Kinder sind und je näher das Kind dem Täter steht. Genießt der Täter hohes gesellschaftliches Ansehen, wird seine Glaubwürdigkeit oft über die des Kindes gestellt. Besitzt er Macht und Einfluss, hat er mehr Mittel zur Verfügung, seine Straftat zu vertuschen. Schutzlose, vernachlässigte Kinder haben es schwerer, sich an andere Menschen zu wenden und um Hilfe zu bitten. Meistens können Kinder nur in einer vertrauensvollen Beziehung über ihre Erfahrungen berichten. Dann ist es wichtig, dem Kind Gehör zu schenken und seine Mitteilungen ernst zu nehmen, ohne in Panik auszubrechen. Hilfreich ist immer, dem Kind Schutz zu gewähren und gemeinsam zu überlegen, wie man vorgeht, um den Täter an weiteren Übergriffen zu hindern.
Die Diagnostik bei einem vermuteten sexuellen Missbrauch durch eine Vertrauensperson (Vater, Stiefvater) gestaltet sich wegen der in der Regel bestehenden Geheimhaltung und Tabuisierung und durch die Bindung zwischen dem Kind und dem Täter extrem schwierig. Sehr viel einfacher sind der Prozess der Aufdeckung und die Beendigung eines sexuellen Missbrauchs, wenn der Täter eine für das Kind eher fremde Person ist und ansonsten für das Kind ein vertrauensvolles Umfeld existiert. Wird das Kind von Anfang an mit seinen Äußerungen ernst genommen und geschützt, sind Schuldgefühle, Verunsicherung oder Traumatisierungen besser zu behandeln.
Voraussetzungen für Therapeuten und Untersucher
Menschen, die mit diesem Thema in Berührung kommen, müssen sich immer wieder ins Bewusstsein rufen: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Leider sind hier Dinge möglich, die unser Vorstellungsvermögen überschreiten. Es wird dem Untersucher/Therapeuten eine Haltung abverlangt, die sich folgendermaßen beschreiben lässt:
- Ruhe bewahren und wohlüberlegt handeln.
- Andere Personen sollten in die Überlegungen mit einbezogen werden.
- Helferkonferenzen und Teambesprechungen sollten zur Klärung und Planung des Vorgehens genutzt werden.
- Entscheidungen sollten, wenn möglich, nicht allein getroffen werden.
- Eigene Denktabus sind hinderlich im Umgang mit diesem Phänomen.
- Die eigene emotionale Betroffenheit sollte geklärt und verarbeitet sein.
- Keine Angst haben, sexuelle Begrifflichkeiten offen anzusprechen oder sie sich anzuhören, ohne dabei in zu großes Entsetzen oder Sensationslust oder Voyeurismus zu geraten.
- Es ist gut, wenn man auf eine natürliche Weise selbstverständlich, aber empathisch und respektvoll mit dem Thema umzugehen weiß.
- Ein Denken und Wahrnehmen, das die Betroffenen nicht nur auf ihren erlittenen Missbrauch reduziert, sondern sie in ihrer Gesamtheit erfasst.
Therapeuten, die sich mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen befassen, sollten eine fundierte psychotherapeutische Ausbildung haben und Fortbildungen zu diesem Thema gemacht haben.
Der wichtigste Unterschied bei der Begegnung mit einem von sexuellen Übergriffen betroffenen Kind ist für den Untersucher zunächst die Frage: Wird der Missbrauch nur vermutet, oder wurde der Missbrauch bereits vom Kind mitgeteilt oder sogar bereits angezeigt? Ist die Person des Täters eine eher fremde Person oder eine Vertrauensperson (Inzest) für das Kind?
Eine ungünstige Bedingung ist der Zeitdruck, den Helfer verspüren, wenn sie einen Missbrauch, der noch stattfindet, vermuten. Die Erfahrung in der Vergangenheit hat aber gezeigt, dass übereiltes Handeln „zum Wohle des Kindes”, wie etwa eine verfrühte Herausnahme des Kindes aus der Familie oft nicht nachhaltig zum Erfolg bzw. Schutz des Kindes führen und ebenfalls eine schwere Belastung darstellt. Die Handlungsschritte sollten, wenn möglich, auch mit dem betroffenen Kind besprochen und abgestimmt werden und nicht nur über seinen Kopf hinweg erfolgen. Dies alles ist umso schwerer, je jünger das betroffene Kind ist.
Bei vermutetem sexuellem Missbrauch sind die wichtigsten Fragen:
- Von wem wird der Missbrauch vermutet?
- Welche Verhaltensweisen des Kindes können als Hinweise gedeutet werden?
- Welche Hinweise auf einen Missbrauch gibt es außerdem?
- Welche alternativen Erklärungsmöglichkeiten gibt es für diese Verhaltensweisen?
- Wer ist/sind der/die mutmaßliche/n Täter/Täterinnen?
- Welche sexuellen Handlungen finden statt?
- Dauert der Missbrauch noch an, seit wann findet er statt?
- Welcher Schutz kann dem Kind gewährt werden und von wem?
- Wie wird das Umfeld auf eine Aufdeckung mutmaßlich reagieren?
- Welche Folgen kann die Aufdeckung für das Kind und sein Umfeld haben?
- Wer hat eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind und kann im Kontakt oder Spiel mit ihm darüber ins Gespräch kommen?
- Was muss getan werden, damit das Kind sich jemandem anvertraut?
Diese Fragen können helfen, ein Bild der Situation zu erstellen, was im Austausch mit allen Helfern und Hilfesuchenden geschehen sollte. In Helferkonferenzen, Fallbesprechungen, Supervision, Teamsitzungen, Familiengesprächen usw. sollten ohne übereiltes Handeln und mit Ruhe und Bedachtsamkeit geeignete Interventionen erarbeitet werden, die den Schutz des Kindes gewährleisten und zur Aufklärung/Aufdeckung beitragen. Z.B.:
- Fakten sammeln und dokumentieren,
- wachsam sein für das Kind, auf seine Signale achten,
- Zuwendung, Schutz gewähren, Grenzen beachten,
- Einbeziehung von Bezugspersonen, soweit dies möglich ist,
- Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zum Kind, in der Äußerungen über den Missbrauch dem Kind selbst möglich werden,
- Beobachtung des mutmaßlichen Täters.
Ist der sexuelle Missbrauch bereits aufgedeckt/beendet, sind folgende Fragen wichtig:
- Wie ist die aktuelle Situation des Kindes?
- Was braucht es?
- Besteht die Gefahr, dass der Missbrauch doch noch andauert oder erneut beginnt?
- Wer schützt das Kind?
- Wie hat es die Aufdeckung erlebt?
- War es selbst daran beteiligt?
- Wem hat es sich zuerst anvertraut?
- Welche Signale hat das Kind gegeben, die zur Aufdeckung führten?
- Wie hat das nahe und weitere Umfeld (Bezugspersonen) darauf reagiert?
- Deckt das Kind den Täter und sucht weiter seine Nähe und leugnet es die Übergriffe?
- Wie zeigt sich das Kind in der neuen Situation?
- Ist das Kind offen für Hilfe und Unterstützung?
Wichtige Themen bei Therapie, Beratung, Aufklärung sind:
- Die Erwachsenen tragen die gesamte Verantwortung und die Schuld an den Ereignissen.
- Die Erlaubnis geben, das Geheimnis zu lüften.
- Als Helfer keine falschen Versprechungen machen, aber zusichern, dass man alle Schritte mit dem Kind gemeinsam bespricht.
- Das Kind steht mit dieser Erfahrung nicht allein da, es passiert auch anderen Kindern.
- Informationen geben, warum sexueller Missbrauch passiert.
- Das Kind ist und bleibt als Person mehr als „sexuell missbraucht“, d.h. es soll nicht darauf reduziert werden; wichtig ist die Rückgewinnung von Normalität für das Kind.
- Schuld und Schamgefühle des Opfers beachten.
- Ambivalente Gefühle zum Täter / zur Täterin beachten.
- Deutlich signalisieren, dass man dem Kind glaubt, es ernst nimmt.
- Fragen offen formulieren, auf implizite Botschaften/Vorwürfe achten.
- Sexuelle Handlungen benennen, wenn dies nötig ist.
- Die Aussagen der Kinder nicht entwerten.
Wenn das Kind für Hilfe und Unterstützung nicht offen ist, dann ist die Beratung mit den Schutz gewährenden Personen sinnvoll. Diese sollen in ihren Bemühungen, den Schutz des Kindes zu gewährleisten, unterstützt werden. Der Schutz des Kindes kann auch durch einen begleiteten und beaufsichtigten Umgang erreicht werden, wenn es sich bei dem (vermuteten) Täter um einen Familienangehörigen handelt; Voraussetzung dafür ist eine Konfrontation des Täters. Für solche Regelungen ist das Jugendamt zuständig. Mit dem Kind sollte ein behutsamer Versuch unternommen werden, eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen, die es dem Kind ermöglicht, eine gute andere Erfahrung zu machen, sodass es auch mit eigener Motivation aus der Beziehung zu dem Täter heraustreten kann.
Es gibt inzwischen in allen größeren Städten eine Vielzahl von beratenden Institutionen, die sich auf das Thema „sexueller Missbrauch“ spezialisiert haben, wie z. B. Wildwasser, Zartbitter. Jugendämter, Erziehungsberatungsstellen, Kinderschutzbund, die Kinder- und Jugendpsychiatrie und viele andere Institutionen, die Eltern und Kinder beraten, sind durch fortgebildete Mitarbeiter in der Lage, mit diesem Thema kompetent umzugehen. Die „insoweit erfahrenen Fachkräfte“ der Jugendämter, kurz IseF genannt, sind geschult, mit sogenannten Meldungen zur Kindeswohlgefährdung nach SGB 8 §8a umzugehen und Schritte zum Wohl des Kindes mit den Beteiligten zu koordinieren. Eine Kindeswohlgefährdungsmeldung nach §8a kann auch anonym erfolgen. Im Internet bietet der von Betroffenen gegründete Verein „Gegen-Missbrauch e.V.“ kompetente Unterstützung an. Es ist immer ratsam, sich bei Verdacht auf einen sexuellen Missbrauch Hilfe und Unterstützung zu suchen. Ebenso sind die staatlichen Institutionen wie Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte inzwischen im Umgang mit diesem Thema geschult. Maßnahmen zum Schutz des Kindes sollten aber immer vor der Anzeige erfolgen.
Ist eine Anzeige eine sinnvolle Intervention?
Die Polizei ist verpflichtet, eine Anzeige zu erstatten, wenn sie von einem sexuellen Missbrauch erfährt. Andere Personen (Angehörige, Helfer, Mitarbeiter von Beratungsinstitutionen) sind dazu nicht verpflichtet. Eine Anzeige sollte nicht der erste Schritt sein, wenn man einen Verdacht hat, da das juristische Vorgehen nach festgelegten Regeln abläuft und die Befindlichkeit des Opfers dabei nur in zweiter Linie berücksichtigt wird. Da es für dieses Delikt eine Verjährungsfrist von 10 Jahren und in schweren Fällen von 20 Jahren nach der Vollendung des 30. Lebensjahres des Kindes gibt, ist Eile bei der Anzeigeerstattung nicht geboten. Wenn das Kind und die Schutz gewährenden, unterstützenden Bezugspersonen des Kindes eine Anzeige wollen, sollten sie über das Vorgehen der Justiz aufgeklärt werden, z. B. in Form einer Rechtsberatung. Der Unterschied zwischen Anzeige/Ermittlung und Verurteilung/Strafe sollte erklärt werden, ebenso Rechte und Pflichten, die auf das Kind als Zeuge zukommen.
Eine wichtige Frage ist, ob das Kind psychisch und physisch in der Lage ist, eine Vernehmung bzw. Begutachtung zu verkraften. Auch ein möglicher Freispruch des Täters muss ins Auge gefasst werden, da die Beweislage oft nicht eindeutig ist und die Glaubwürdigkeit der Kinder und Jugendlichen extremen Prüfungen unterworfen wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt bei dieser Entscheidung ist auch die Frage, wie gefährlich der Täter weiterhin auch für andere Kinder ist. Eine Anzeige, auch wenn sie nicht zur Verurteilung führt, kann einen weiteren Missbrauch durch diesen Täter unwahrscheinlicher machen. Bei einer zweiten Anzeige wird die Glaubwürdigkeit der Opfer höher bewertet, da schon Vorbelastungen des Täters aktenkundig sind, eine Verurteilung ist dann wahrscheinlicher. Wird eine Anzeige erstattet, sollte das Kind durch eine Nebenklage vertreten sein.
Wie kann sexueller Missbrauch verhindert werden?
Individuell kann sexueller Missbrauch am besten durch eine liebevolle und selbstwertstärkende familiäre Bindung und Erziehung sowie durch angemessene Aufklärung in der Familie und Schule verhindert werden. Im Alltag ist es wichtig, Kinder und Jugendliche zu ermutigen, sich selbstbewusst gegen unangemessene Bevormundung und körperliche Übergriffe durch Erwachsene zur Wehr zu setzen. Ein respektvoller Umgang mit Kindern ist dabei gefordert, der aber die Erwachsenen nicht aus ihrer Autorität und Verantwortung gegenüber dem Kind entlässt. Dies ist oft unbequem für die Erwachsenen und braucht Geduld und pädagogisches Geschick. Werden Kinder im Alltag mit ihren Bedürfnissen nicht ernst genommen, nutzen Präventionsprojekte gegen sexuellen Missbrauch nicht viel. Denn wer traut sich schon, einen Erwachsenen zurückzuweisen, wenn er Zuhause keine Konflikte ausfechten darf? Doch auch trotz Vorsorge und guter Erziehung kann ein Kind Opfer von sexuellen Übergriffen werden und sich aufgrund seiner Abhängigkeit oder kindlichen Schwäche gegenüber einem Täter nicht zur Wehr setzen. Dies ist ein Teil unserer Lebensrealität, die zu verleugnen das Problem verschlimmern würde. Wer Kindern und Jugendlichen mit einer unaufgeregten, informierten Haltung zur Seite steht, ist eine große Hilfe.
Will eine Gesellschaft insgesamt ihre Kinder besser gegen sexuellen Missbrauch oder Gewalt schützen, bedarf es Anstrengungen in mehreren Bereichen, die nur über politische Veränderungen erreicht werden können. Die juristischen Voraussetzungen für einen Schutz von Kindern gibt es bereits. Änderungen sind hier nur noch im Detail, wie etwa den Verjährungsfristen, wünschenswert. Die Klarheit, dass es sich um eine Straftat handelt, die für die Opfer zerstörerische Wirkung entfaltet, und nicht um ein mögliche Spielart von Sexualität, ist jedoch in den Köpfen vieler Menschen noch nicht angekommen. Hier ist es Aufgabe der Pädagogik und der Psychologie, für mehr Aufklärung und Wissen zu sorgen. Schließlich brauchen wir insgesamt in der Gesellschaft eine offenere Gesprächskultur über das Thema Sexualität, ohne ihr das Private zu nehmen. Eine sachliche und informative statt sensationslustige Berichterstattung durch die Medien könnte auch dazu beitragen, dass dieses Thema in der Gesellschaft offener und angstfreier angesprochen wird. Eine effektive Hilfe für Betroffene könnte so früher erfolgen.
Nur bei einer begrenzten Zahl pädophiler Täter ist das sexuelle Verhalten hauptsächlich als Störung der Sexualpräferenz zu erklären. Pädophile Täter brauchen spezielle Behandlungsprogramme, wie sie derzeit von der Charité in Berlin angeboten werden. Auch nicht-pädophile Täter, die aus anderen Motiven Kinder missbrauchen, benötigen Beratung und Hilfe und meist intensive Therapien, die dort ebenfalls angeboten werden. Inzwischen sind diese Projekte auch in anderen Städten der BRD angekommen und verfügbar, allerdings noch in zu geringem Umfang. Um Menschen, die Kinder sexuell missbrauchen, effektiv zu helfen, muss mehr in Forschung und Wissenschaft investiert werden, damit Therapien optimiert werden können.
Wenn wir aber davon ausgehen, dass die meisten Täter in ihrer Persönlichkeitsentwicklung deformiert sind und daher in ihrer Beziehungsgestaltung zu Kindern und Jugendlichen zu missbräuchlichem Verhalten neigen, brauchen wir ein gesellschaftliches Klima, in dem eine gute Entwicklung der Persönlichkeit zu verantwortungsbewussten Erwachsenen individuell möglich wird. Dafür Voraussetzungen zu schaffen, kann als gesamtgesellschaftliche Prävention verstanden werden. Viele Kinder leben aber heute trotz Wohlstand und Wissen in einer Welt ohne liebevolle Beziehungen, ohne Verständnis für ihre Eigenarten, ohne ausreichende Förderung, ohne wohltuende Grenzen, mit zunehmender Überforderung ihrer noch nicht fertig entwickelten Persönlichkeit. Dies geschieht aus unterschiedlichsten Gründen, wie z. B. überforderte Eltern, Fachkräftemangel in Institutionen wie Schulen, Kindergärten, Jugendämter, zu wenig praxisorientierte Ausbildung für Lehrer und pädagogisch arbeitende Berufe, mangelndes gesellschaftliches Ansehen dieser Berufe, wenig gesellschaftliche Wertschätzung und Wissen über Kinder und die Erziehungsarbeit von Eltern. Diese Aufzählung nennt eine Vielzahl von möglichen Ansatzpunkten für präventive Maßnahmen, die eine Gesellschaft zur Verfügung hätte, um die Entwicklungsbedingungen für Kinder zu verbessern und damit präventiv individuellen Fehlentwicklungen im Erwachsenenalter entgegenzuwirken. In Institutionen benötigen wir eine größere Transparenz in den Hierarchien und Abläufen und die Bereitschaft zur offenen Kommunikationskultur, die es erlaubt, Probleme quer durch die Hierarchien zu benennen.
Damit würde das Thema sexueller Missbrauch an Kinder und Jugendlichen seine Eigenschaft von “ laut und leise“, wie eingangs beschrieben, verlieren. Durch Aufklärung und Informationen würde dieses Thema „hörbarer“ werden. Durch bessere Sozialisationsbedingungen für Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft würden viele Ursachen des sexuellen Missbrauchs abgeschwächt. Dies kann nur in einer gemeinsamen Anstrengung der Gesellschaft gelingen. Effektiver Kinderschutz, für den eine Gesellschaft Zeit, Raum und materielle Ressourcen zur Verfügung stellt, stabilisiert und sichert ihr Wohlergehen, ihren Wohlstand und ihre Sicherheit. Kinder sind immer die Zukunft einer Gesellschaft.
Literatur
Erik H. Erikson (1977): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Sándor Ferenczi (1932): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In: Ders.: Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. III. Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein Materialien, 1984.
Sigrid Rösinger-Pape (1998): Traumatisierende und protektive Faktoren bei kindlichem Missbrauch und ihre Auswirkungen auf die intrapsychischen Abwehrmechanismen. Integrative Therapie 24 (3-4), 282-297.
Rosemarie Steinhage (1989): Sexueller Missbrauch an Mädchen. Ein Handbuch für Beratung und Therapie. Reinbek: Rowohlt.
Ursula Wirtz (1989): Seelenmord. Inzest und Therapie. Zürich: Kreuz Verlag.
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